Hintergrundinformationen - "Unter dem Banner des Kreuzes"


Die erleuchteten Knaben

Zwei Hirtenknaben haben im Frühjahr 1212 auf freiem Feld eine himmlische Erscheinung, bei der Stadt Vendôme der eine, in der Nähe von Köln der andere. Beide mit demselben göttlichen Auftrag: Zusammen mit unschuldigen „Kindern“ die heilige Stadt Jerusalem von den Ungläubigen befreien, anders als die bislang gescheiterten Kreuzritter friedlich und ohne Waffen. Der Herrgott werde sie schützen und das Meer vor ihnen teilen. Diesem wahnwitzigen Unternehmen fallen am Ende Tausende zum Opfer – Folgen einer Massenhysterie, eines teuflisch eingefädelten Plans der Kirche oder raffgieriger Sklavenhändler?


Der Kinderkreuzzug - Fakt oder Legende?

files/AstridFritz/Bilder ab Henkersmarie und Sera3/Omen Schedelsche.jpg Dass sich im Jahre 1212 Tausende und Abertausende von Kindern und Jugendlichen auf einen Kreuzzug ins Heilige Land aufgemacht haben sollen, unter Führung eines Zehnjährigen mit visionären Erscheinungen, erscheint uns heute reichlich absurd. Erst recht ihr unerschütterlicher Glaube, das Mittelmeer würde sich vor ihnen teilen und sie könnten Jerusalem ohne Waffen, nur mit Worten aus muslimischer Herrschaft befreien. Dass das ganze Unternehmen elendig scheitern musste und unzählige Opfer forderte, ist uns Heutigen klar. In jener tiefgläubigen Zeit aber waren Himmelserscheinungen und Visionen, wie es uns die zahlreichen Heiligengeschichten lehren, keine Seltenheit: Man nahm die Bibel wörtlich, Gott sprach zu den Menschen (zumindest zu den Auserwählten) und vermochte Wunder zu bewirken. Aus heutiger Sicht diesen Kinderkreuzzug schlichtweg ins Reich der Legende zu verweisen, wie es so mancher Historiker getan hat, wäre also voreilig, zumal zahlreiche zeitgenössische Stadtchroniken und Kloster-Annalen davon berichten.

Indessen ist die Quellenlage unübersichtlich, teilweise auch widersprüchlich. Etliche Chroniken sind einige Jahrzehnte nach 1212 verfasst, manche von religiösem Eifer und Wunschdenken gefärbt oder, wie es im Mittelalter üblich war, mit übertriebenen Zahlen und Fakten unterfüttert, was dann vom nächsten Chronisten unbekümmert übernommen wurde. Augenzeugenberichte von Teilnehmern gibt es leider keine – wer von den ärmlichen jungen Leuten hätte wohl auch Lesen und Schreiben können, eine Fähigkeit, die selbst der Adel oder die niedere Geistlichkeit in der Mehrzahl nicht hatte. So hat die Sagen- und Legendenbildung zum Kinderkreuzzug schon sehr früh eingesetzt und wurde bis in die Literatur des 19. Jh. unkritisch weitergegeben.

Ist also der Wahrheitsgehalt der einzelnen alten Chroniken auch umstritten, so gibt es dennoch einige Tatsachen, die stets wiederkehren und an die ich mich für meinen Roman gehalten habe. Strittige Fakten habe ich in der Handlung selbst thematisiert, wie etwa die Wunderheilungen des Hirtenknaben, seine Begegnung mit Jesus Christus und einem Engel oder auch die Anzahl der Pilger: Wenn in den Quellen von 20.000, gar 30.000 Teilnehmern die Rede ist, muss man bedenken, dass solche Zahlenangaben oftmals schlichtweg für „unglaubliche viele“ stehen.
Anmerken möchte ich hier noch, dass bis auf die schillernde Figur des Hirtenknaben Nikolaus all meine Protagonisten natürlich erfunden sind.


Das Königreich Jerusalem und die Heilige Stadt

schedelsche Jerusalem von 1493.jpgStellt sich uns heute dieser sogenannte Kinderkreuzzug – der Begriff Kreuzzug kam erst im 17. Jahrhundert auf - als eine kaum glaubhafte Begebenheit dar, war er für die gottesfürchtigen Menschen damals höchstens in seiner kindlichen Ausprägung außergewöhnlich, nicht aber in seiner Spiritualität (ähnliches, nämlich einen Kreuzzug der Armen, hatte es über 100 Jahre zuvor unter Peter dem Einsiedler schon einmal gegeben). Die Sehnsucht, das Heilige Land mit den Wirkungsstätten Jesu den muslimischen Herrschern zu entreißen, war groß und in allen Gläubigen mehr oder weniger tief verankert.

Dem Christentum ist Jerusalem seit jeher eine heilige Stadt – ebenso wie dem Judentum und dem Islam. Das alttestamentarische Jerusalem stand ja zu Zeiten von Jesu Geburt unter römischer Herrschaft. Die Römer bzw. später die Byzantiner des oströmisch-christlichen Reichs blieben 600 Jahre lang Herrscher über Palästina, bis die Stadt 614 n.Ch. von den persischen Sassaniden eingenommen wurde, im Jahre 637 dann von arabischen Truppen. Den Juden wurde die Ansiedlung in Jerusalem wieder gestattet, was die praktisch 500 Jahre währende Phase jüdischer Vertreibung aus der Stadt beendete, und auch die meisten christlichen Bewohner blieben. Die Ära muslimischer Herrschaft dauerte bis zur Eroberung der Stadt durch die Kreuzritter, wobei die muslimischen Machthaber bis dahin mehrfach wechselten und damit auch die Phasen christen- bzw. judenfeindlicher Politik mit Phasen der Toleranz.

Nach der Einnahme Jerusalems am 15. Juli 1099 durch die fränkischen Heerführer Gottfried von Bouillon und Raimund von Toulouse (innerhalb von drei Tagen meuchelten diese Kreuzritter geschätzte 20.000 Bewohner!) wurde das christliche Königreich Jerusalem gegründet. Das Königreich betrieb bald eine Ausgleichspolitik mit den Muslimen, weil die verbliebenen Franken, wie die Europäer von den Muslimen genannt wurden, zahlenmäßig nicht stark genug waren, um das Land zu beherrschen. Das Reich wurde um die Hafenstädte Akkon, Sidon und Beirut erweitert und erlangte auch die Oberhoheit über die anderen Kreuzfahrerstaaten im Norden (Antiochia, Edessa und Tripolis). Der sich nun entwickelnde Asienhandel brachte dem Königreich beträchtlichen Wohlstand. Unter König Balduin IV. (von 1174 bis 1183) begann das Königreich indessen von innen heraus zu zerfallen, zugleich bedrohte Sultan Saladin die Kreuzfahrerstaaten von außen. Die fränkischen Heerführer provozierten einen offenen Krieg (Saladin hatte sich bis dato zurückgehalten), der in einer verheerenden Niederlage der Christen am 4. Juli 1187 endete.

RichardSaladin England um 1340.jpgIn den nächsten Monaten überrannte Saladin fast ohne Widerstand das gesamte Königreich, mit Ausnahme der Hafenstadt Tyrus. Auch Jerusalem war verloren, wobei die Sarazenen sich bei der Eroberung der Stadt diszipliniert verhielten und die befürchteten Übergriffe gegen die christliche Bevölkerung ausblieben – ein krasser Gegensatz zum Verhalten der christlichen Eroberer Jerusalems knapp 90 Jahre zuvor.

Der Fall Jerusalems entsetzte Europa und führte zum 3. Kreuzzug unter Richard Löwenherz, der zwar die syrischen Küstenstädte zurückerobern konnte, Jerusalem indessen aufgeben musste. In den nächsten hundert Jahren führte das christliche Königreich eine Existenz als Kleinstaat entlang der syrischen Küste, bis die Mamelucken aus dem benachbarten Ägypten nach und nach das praktisch wehrlose Land eroberten. Als letzte Festung fiel 1291 die Hafenstadt Akkon, das Königreich Jerusalem hörte auf zu existieren. Die Christen hatten fortan einen schweren Stand im nahen Osten, da die kriegerischen Mamelucken weit weniger human mit den Besiegten umgingen als hundert Jahre zuvor Sultan Saladin.


Die Kreuzzüge – eine blutige Spur durch Europa und den nahen Osten

peter-der-einsiedler.jpgDie Kreuzzüge zwischen 1095/99 und dem 13. Jahrhundert waren strategisch, religiös und wirtschaftlich motivierte Eroberungsfeldzüge: Die Kirche, die sich gegen die erstarkende kaiserliche Macht mit einem Königreich Jerusalem endlich an die Spitze des Abendlandes setzen wollte, versprach Nachlass der jenseitigen Sündenstrafen und sanktionierte ausdrücklich den Krieg gegen die Heiden, den Fürsten bot sich die Aussicht auf mehr Macht, Kaufleute erhofften sich neue Stützpunkte im Orient, die Heerführer und Kreuzritter lockten Beute und Gewinn, für die praktisch unterbeschäftigten Ritter, erst recht für deren nachgeborene Söhne, bot sich ein neues Aktionsfeld. Manch einer verkaufte gleich seinen ganzen Besitz, um in der Fremde neu anzufangen.

Die erschreckende Bilanz dieses gesamteuropäischen „Jahrhundertunternehmens“: geschätzte 22 Millionen Tote! Schon der erste Kreuzzug, zu dem Papst Urban II. 1095 aufgerufen hatte, war unglaublich brutal: Horden wälzten sich durch Ungarn und Byzanz, was man brauchte, kaufte man nicht, sondern raubte es, man vergewaltigte und mordete, nachdem man zuvor schon die im Rheinland ansässigen Juden ausgeraubt und ermordet hatte. Die Eroberung Jerusalems schließlich erfolgte unter Strömen von Blut – gegnerischen Bluts wohlweislich, indem Männer, Frauen und Kinder niedergemetzelt wurden. „In allen Straßen und auf allen Plätzen waren Berge abgeschlagener Köpfe, Hände und Beine zu sehen. Die Menschen liefen über die Leichen und Pferdekadaver“, beschrieb ein Augenzeuge das Massaker der Christen an den sogenannten Ungläubigen.

Nach den im Abendland begeistert gefeierten Anfangserfolgen, die zur Eroberung Jerusalems und eines Großteils Palästinas geführt hatten, wurde die ursprüngliche Kreuzzugsidee, propagandistisch unterstützt durch Prediger wie Bernhard von Clairvaux, nun auch unverhohlen auf Ziele in Europa übertragen, so mit dem Feldzug gegen die Mauren auf der iberischen Halbinsel oder gegen die heidnischen Wenden im Gebiet zwischen Elbe, Trave und Oder, gegen Juden, Albigenser und Katharer.

Kreuzfahrer imHafen zu Genua Miniatur um 1490.jpegDie neuen Eroberungsversuche 1147/48 im Heiligen Land hatten keine Erfolge gebracht, und so blieb Bernhards Aufruf zu einem neuerlichen Kreuzzug ohne Echo. Mehr und mehr Zeitgenossen erkannten, dass nicht religiöse Motive die Kreuzfahrer antrieben, sondern schlicht Geld- und Machtgier, was zu Kleinkriegen der Kreuzfahrer untereinander führte und die „Kriegsmoral“ schwächte: Saladin eroberte Jerusalem zurück und fast das gesamte Königreich Jerusalem.

Erst unter dem Schock des Verlustes der Heiligen Stadt kam unter Kaiser Friedrich Barbarossa und Richard Löwenherz wieder ein Großaufgebot an europäischen Heeren zustande – ohne dass sie Jerusalem hätten zurückgewinnen können. Dafür waren auf dem Weg dorthin in Ungarn, auf dem Balkan und in der heutigen Türkei wiederum unzählige Menschen abgeschlachtet worden. Der nächste Kreuzzug schließlich (1202-1204, von Innozenz II. aufgerufen) richtete sich gegen die eigenen Glaubensgenossen im oströmischen byzantinischen Reich – die religiöse Idee war endgültig offenem Machtstreben und Beutegier geopfert, und so wurde das märchenhaft reiche Konstantinopel der abtrünnigen christlichen Brüder regelrecht ausgeplündert!

Kreuzfahrer erobern Jerusalem zurueck - um 1300.jpgDer Kreuzzugsgedanke steckte in der Krise, ohne dass indessen die Sehnsucht nach der Befreiung Jerusalems erloschen gewesen wäre. Doch bei Geistlichkeit und Adel hatte sich längst Unwillen eingestellt, und im einfachen Volk war die Begeisterung für die Gotteskrieger verflogen, die als „Kriegsgewinnler“ unterwegs gut Beute gemacht oder sich in den verbliebenen christlich besetzten Teilen Palästinas festgesetzt hatten, um sich dort in orientalischem Luxus einzurichten. Die ersten kritischen Stimmen gegen bewaffnete Kriegszüge kamen auf, die Zahl der Bewunderer der hochstehenden orientalischen Kultur nahm zu, manch einer verlautbarte gar offen, die Religion der Muslime sei zu tolerieren

Dem allem musste die Kirche entgegen wirken. Und so verkündete Papst Innozenz III. 1212 öffentlich, dass das „heilige Werk“ der endgültigen Befreiung Jerusalems nur einem unschuldigen Kind gelingen könne. Zwar dachte er dabei an den siebzehnjährigen Thronanwärter Friedrich II. von Hohenstaufen, dessen Vormund und Gönner er war, doch einmal ausgesprochen, pflanzte sich dieser Gedanke in die Köpfe der Menschen. Erst recht, als im Gefolge eines gewissen Franz von Assisi eine neue mönchische Bewegung aufkam: Er und seine Anhänger, die als Buß- und Armutsprediger durch die Lande zogen, vertraten die Ansicht, dass nur eine Bewegung von Unschuldigen und Armen fähig sein werde, das Grab Christi zurückzuerobern.


Gab es dunkle Hintermänner?

Bei aller Wundergläubigkeit und Gottesfurcht jener Zeit: Dass gleich zwei Hirtenknaben im Frühjahr 1212 an unterschiedlichen Orten eine himmlische Offenbarung erfahren hatten (bei Vendôme der junge Schafhirte Stephan, bei Köln der etwa zehnjährige Hirtenknabe Nikolaus) lässt heimliche Drahtzieher vermuten.

Für mich als Autorin stellte sich natürlich die Frage, wie diese „Kinder“ - in Wirklichkeit waren es in der Mehrzahl Halbwüchsige aus ärmlichen Verhältnissen - auf einen solch hanebüchenen Gedanken kamen, zu Fuß nach Palästina zu wandern, um allein mit Gottes Wort Jerusalem zu befreien. Wie die allermeisten ihrer Zeitgenossen nahmen auch sie die Bibel wörtlich, und so waren sie gewiss von der Wahrheit der Prophezeiung ihres Anführers überzeugt. Den Kinderkreuzzug allerdings als reine Massenhysterie abzutun, die von zwei halben Kindern angefacht wurde, wäre zu kurz gegriffen, und persische Geheimbünde als Hintermänner anzunehmen, wie in der Literatur vorgekommen, zu phantastisch. Auch skrupellose Intriganten und Geschäftemacher, die mit Aberhunderten von jungen Leuten reiche Beute für den Sklavenmarkt witterten, hätten wohl kaum ein solch aufwändiges und „verlustreiches“ Unternehmen initiiert – sie haben in den italienischen Hafenstädten wohl eher die Gelegenheit beim Schopfe gepackt. Steckte also mit Papst Innozenz die Kirche dahinter? Innozenz III. bewunderte die jungen Leute zwar, hatte aber nie seinen Segen für diesen Kreuzzug gegeben.

Franz von Assisi Fresko im Sacro Speco in Subiaco.jpgAm plausibelsten erscheint mir, dass das Sendungsbewusstsein der beiden Hirtenjungen durchaus echt gewesen war, ihre wundersame Begegnung mit Heiland und Engeln indessen nicht. Hier könnten fanatisierte Armutsprediger des oben erwähnten neuen Bettelordens durchaus ein wenig „nachgeholfen“ haben, um die Knaben für ihre eigene Mission zu instrumentalisieren. Was Stephan und Nikolaus ihren Anhängern predigten, entsprach nämlich haargenau dem Credo der Franziskaner: In Armut, Frieden und ohne Waffen durch die Welt ziehen und dabei die Ungläubigen allein durch Gottes Wort und gelebten Glauben bekehren. Und wer wäre hierzu besser geeignet als unschuldige Kinder und Jugendliche aus den untersten Schichten, die ohnehin nichts zu verlieren hatten. Dazu würde auch passen, dass Nikolaus laut der Chronik von Trier auf seinem Gewand ein Kreuzzeichen in der Form eines T getragen haben soll, genau wie Franz von Assisi.

Ob dieser Kinderkreuzzug nun mit oder ohne Wissen des bald schon heiliggesprochenen Franziskus ins Verderben zog, war aber für meinen Roman letzt-endlich ohne Bedeutung.

Die Welt des Hochmittelalters

Heuernte JuniAusschnitt Stundenbuch.jpgDie Zeit um 1200 war eine Umbruchzeit, nämlich der Abkehr von der ländlichen Feudalherrschaft des Adels hin zum neu entstehenden Bürgertum, also vom Land zur Stadt. Die antiken, im Frühmittelalter verfallenen Römer- und Bischofsstädte belebten sich wieder, alte Marktsiedlungen und Königspfalzen wuchsen zu Städten, eine Welle von planmäßig angelegten Neugründungen wie Freiburg, Lübeck oder Leipzig überzog im 12. Jh. und 13.Jh. das Land. Zählte man auf deutschem Boden noch um 1150 nur 200 Städte, so verdreifachte sich die Zahl bis 1200, und zum Ende des Mittelalters gab es bereits rund 4.000 Städte. Die meisten hatten nicht mehr als 2.000 Einwohner, und das Stadtbild war noch ein anderes als wir es von unseren „Mittelalterstädten“ kennen: viel weniger eng, mit weitaus mehr Holz- als Steinhäusern und einfachsten Schotter- oder Lehmstraßen (die typischen Patrizierhäuser rund um den Markt, die es in Italien schon gab, entstanden erst seit dem frühen 13.Jh.).

Die neuen Städte hatten eine enorme Sogwirkung, galt doch für die Neuankömmlinge, dass sie nach Jahr und Tag frei waren von den früheren Grundherren und den drückend hohen Abgaben. So setzte eine Landflucht der einfachen und unfreien Menschen vom Land ein, Kaufleute wurden sesshaft, Dorfhandwerker zu Bürgern, die sich nach und nach als eigener Stand behaupteten. So geriet die alte Ständegesellschaft allmählich ins Wanken: Zum Nährstand des Bauern, dem Wehrstand des Adels und dem Lehrstand des Klerus gesellte sich der selbstbewusster werdende Bürger, der sich zu Interessens- und Schwurverbänden, zu Bruderschaften und Innungen zusammenschloss und später über die Gilden und Zünfte eigene Rechte einforderte.

In politischer Hinsicht war die Zeit um 1212 bestimmt von dem Thronstreit zwischen dem Welfen Otto IV. von Braunschweig und dem jungen Staufer Friedrich II. von Hohenstaufen, König von Sizilien und Enkel des legendären Kaisers Friedrich Barbarossa, sowie dem Machtkampf zwischen Päpsten und römisch-deutschen Kaisern. Das Heilige Römische Reich umfasste damals neben den nordalpinen deutschsprachigen Gebieten (einschließlich Regionen wie Böhmen, Mähren, Schlesien oder Elsass-Lothringen, Schweiz und Österreich) auch das alte Königreich Burgund (heutige Westschweiz/Ostfrankreich und die Provence) sowie das nördliche Italien bis hin zum Kirchenstaat Rom. Es war nie ein Nationalstaat moderner Prägung, vielmehr ein loses, sich immer wieder veränderndes Machtgefüge aus weltlichen wie geistlichen Herrschaften, mit dem Kaiser an der Spitze. Der hatte vor allem gegen die mächtiger werdenden Stadtrepubliken Norditaliens schwer zu kämpfen.

Bauern im Maerz Ausschnitt Stundenbuch 1410.jpgDies alles berührte die einfachen Menschen kaum. Ihre Herren waren die jeweiligen Grund- oder Stadtherren, ihr mühseliges und entbehrungsreiches Alltags- und Arbeitsleben war geprägt vom Einfluss der Kirche, der bis tief ins Privatleben reichte. Das irdische Dasein galt ihnen als Bewährungsprobe, als Vorstufe zum ewigen Leben. Man hatte seinen festen, angestammten Platz im Leben, tugendhaft war, sich wie alle zu verhalten, das Einzigartige besaß keinen Wert, Arbeit war gottgefällige Buße, jede Neuerung Sünde, der Machtlosigkeit des Menschen stand die Allmacht Gottes entgegen. Bedrohungen waren allgegenwärtig: Naturgewalten, Missernten und Hungers-nöte, Seuchen, Raubüberfälle, ein plötzlicher Tod, die menschliche Bosheit. Da war die Religion willkommene Arznei für die Seele, Rettung boten Gebete, der Glaube an Engel und Heilige, Wallfahrten an heilige Stätten, Almosen und Besuche der Messe, aber auch die Magie, waren doch die alten Geister, Waldwesen und Unholde der Germanen noch durchaus lebendig. Doch die Religion enthielt neue Drohungen. Zwar war der Klerus für die seelischen Nöte da, andererseits schürte er die Angst mit seinen Bildern von Hölle, Teufeln und Weltgericht.

Interessanterweise ist erst seit dem 12. Jh. der Aufenthalt im Fegefeuer zur Reinigung von den Sünden im Volksglauben verankert, dessen Zeit nur durch die Gebete der Gläubigen oder durch Ablässe verkürzt werden konnte. Bis dahin war das Weltgericht mit Freude erwartet worden, da man den Heiligen vertraute, ins ewige Leben auferstehen zu dürfen. Das kindliche Vertrauen in Gerechtigkeit ging verloren, Gott wurde zu einem zornigen Gott. So schwankte der Alltagsglaube zwischen Frömmigkeit und Grausamkeit, zwischen Gelehrsamkeit und Aberglaube, humanitärem Geist und religiösem Massenwahn.

Brueghel d.Ae. triumph des Todes ausschnitt.jpgDies alles vermittelte wenig Geborgenheit. Daher hatte neben dem Glauben die Gemeinschaft eine enorme Bedeutung: In Stadt und Dorf rückte man nahe zusammen (Individualismus und Privatleben hatten keinen Stellenwert), geschützt durch Mauern oder Zäune, von Grundherren oder Stadtherren. Über die Familie hinaus schloss man Bündnisse wie Bruderschaf-ten, Genossenschaften, später Gilden oder Zünfte. Der Tod war ein steter Begleiter, entriss einem den Freund, den Partner, die Kinder. So überlebten meist nur zwei bis drei Kinder pro Familie, auf dem Land auch mehr. Spätestens mit sechs, sieben Jahren wurden sie wie kleine Erwachsene behandelt (vorher durften sie durchaus spielen), waren immer und überall dabei, wuchsen in die Arbeitswelt der Großen hinein, galten nach altem salischem Recht bereits mit zwölf als volljährig. Umgekehrt waren die Erwachsenen aus heutiger Sicht selbst wie große Kinder, die sich mit Spielen vergnügten und nicht Lesen und Schreiben konnten. Und so wie Kinder gezüchtigt wurden, wurden auch Erwachsene gezüchtigt, mit dem Unterschied nur, dass Kinder ganz am unteren Ende der sozialen Hierarchie standen. Dennoch wurden sie von ihren Eltern durchaus geliebt – dass dem nicht so sei, ist nur einer der populären historischen Irrtümer, ebenso wie jener, dass es keine Liebesheiraten gab (in Epen und Minnelieder wurden sie ausgiebig besungen!) oder kaum jemand ein höheres Alter erreichte.

Wallfahrten – Reisekultur des Mittelalters

Hospice_du_Grand_Saint-Bernard_1835.jpgDas Mittelalter war erstaunlich mobil, und neben Klöstern und Privatunterkünften entstanden die ersten Gasthäuser und Reiseherbergen. Da zogen Kaufleute in Karawanen durchs Land, reitende Boten der Territorialherren, Studenten der Klosterschulen und ersten Universitäten, Wanderprediger, Gaukler und Vaganten, Knechte und Mägde auf der Suche nach Arbeit, Bischöfe und Äbte auf Visitationsreise, Könige bzw. der Kaiser mit riesigem Gefolge auf dem Weg von Königspfalz zu Königspfalz, die über das ganze Reichsgut zerstreut waren. Und in großer Zahl eben auch die Pilger.

Die wichtigsten Wallfahrtsorte jener Zeit waren das Grab des Apostel Jakobus in Compostela, die Gräber der Apostel Petrus und Paulus in Rom und die Stätten im Heiligen Land, wie Jesu Grab oder Geburtskirche. Hatte man sein Ziel erreicht, durfte man sich Hut oder Gürtel mit den jeweiligen Insignien schmücken - die Jakobsmuschel für Sankt Jakob von Compostela, der Petrusschlüssel für Rom, der Palmzweig für Jerusalem. Man unternahm die weite, anstrengende und nicht ungefährliche Reise, um Buße zu tun, Ablass von Sündenstrafen zu erbitten, Gebrechen zu heilen oder auch als Strafauflage seitens der Obrigkeit oder Kirche. Manch einen trieben auch Neugier und Abenteuerlust.

Gotthard_Saeumerkolonne_Winter.jpgAm Anfang der Pilgerreise stand das Gelöbnis, vor Freunden oder dem Pfarrer abgelegt, innerhalb einer bestimmten Frist die Wallfahrt zu unternehmen. Man machte sein Testament, verkaufte vielleicht seinen Besitz, machte sich reisekundig, indem man sich die wichtigsten Wegmarken einprägte. (Pilgerführer und Karten, die es bereits im Mittelalter gab, trug man nicht etwa im Handgepäck, sondern studierte sie zuvor oder ließ sich den Streckenverlauf, auch unterwegs, von Mund zu Mund weitergeben). Ohnehin war es ratsam, sich einer Gruppe anzuschließen, auch wenn durch die besondere Tracht, durch Schutzbriefe des Pfarrers oder Pilgerpässe eine gewisse Reisesicherheit gewährleistet war, da gegenüber Pilgern das Friedensgebot galt (Übergriffe auf sie zogen schwerste Kirchenstrafen nach sich).


Pilger Zeichnung von Pieter_Brueghel.jpgSo traf man denn auf den Pilgerwegen oft Scharen von Wallfahrern (ein Viertel bis ein Drittel waren übrigens Frauen) mit ihren breitkrempigen Hüten, mannshohen Pilgerstäben und Taschen für Mundvorrat und Trinkflasche. Wer es sich leisten konnte, trug einen langen, lederverstärkten Umhang und festes Schuhwerk. Einem Wallfahrer Kost und Unterkunft zu gewähren, war ein Werk der Barmherzigkeit, seit dem Hochmittelalter entstanden auch, gerade in den Alpen, mehr und mehr mönchische Hospize.

Der Schritt von der friedlichen Wallfahrt zum bewaffneten Kreuzzug (Kaiser Friedrich Barbarossa war beim dritten Kreuzzug mit Pilgerstab und Pilgertasche unterwegs, um den Wallfahrtcharakter zu betonen!) scheint nicht groß. Im Verständnis der Zeitgenossen waren die Kreuzzüge beides zugleich: Bußgang und „gerechter Krieg“, zu dem Gott selbst durch das Wort des Papstes aufrief; die Kreuzritter, die sich als Gotteskrieger sahen, legten wie bei einer Pilgerfahrt ein feierliches Gelübde ab; wer sein Leben verlor, dem winkte zum Lohn das Paradies. Wem käme da nicht der Vergleich mit heutigen Dschihadisten in den Sinn…

Dabei hätten Kreuzzüge aus rein religiöser Sicht gar nicht sein müssen: Wallfahrten nach Jerusalem waren auch unter muslimischer Herrschaft fast ungehindert möglich. So kam denn auch Franz von Assisi auf die Idee, nicht durch Waffen, sondern durch Worte zu bekehren: Er reiste 1219 nach Palästina, wurde dort freundlich aufgenommen und durfte sogar predigen!

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