Hintergrundinformation - "Der dunkle Himmel"
Die Naturkatastrophe: Ein Berg explodiert
Der wohl gewaltigste Vulkanausbruch der Menschheitsgeschichte sollte für die Länder der nördlichen Hemisphäre ungeahnte Folgen haben, obwohl sich die Katastrophe fernab ereignete: Auf der indonesischen Insel Sumbawa, im Sultanat Tambora, versetzten am 5. April 1815 Donnerschläge und erste Erdbeben die Bewohner wie auch die britischen Handelsherren der Ostindien-Kompanie in Angst und Schrecken. In den nächsten Tagen regnete es Asche, weitere Explosionen folgten, bis das Bergmassiv Tambora in den Tagen zwischen dem 10. und 15. April förmlich explodierte. Danach war das Sultanat ausgelöscht, die gesamte Insel Sumbawa verwüstet, der Vulkan von etwa 4200 Höhenmetern auf 2850 geschrumpft, mit einem riesigen Kratersee in seiner Mitte. Asche und Lava hatten im weiten Umkreis alles unter sich begraben, zehntausende Menschen erstickten oder verbrannten, Wirbelstürme und Tsunamis forderten weitere Opfer, auf Jahre waren die Ernten vernichtet, das Trinkwasser vergiftet. Wer überlebt hatte, floh auf die Nachbarinseln Bali und Lombok, aber auch dort waren Felder und Quellen vom Ascheregen verdorben.
Von all dem wussten die Menschen in Mitteleuropa und Nordamerika zunächst nichts. Und wer von den Belesenen unter ihnen geraume Zeit später davon aus der Zeitung erfuhr, der dachte sich vielleicht: Die armen Menschen dort – welch ein Glück für uns, dass das am anderen Ende der Welt geschehen ist.
Die Folgen
Der Höhenrauch verdunkelte nicht nur in weiten Teilen Asiens die Sonne, über Monate hinweg, sondern legte sich infolge des Jetstreams wie ein Gürtel über den nördlichen Erdball, wo der Winter 1815/16 zu einem der kältesten des letzten Jahrtausends werden sollte. Und dass, wo schon in den Jahren zuvor eine reduzierte Sonnenaktivität zur Abkühlung beigetragen hatte, mit zu kühlen und nassen Sommern, mit miserablen Ernten. Das Folgejahr, das legendäre „Jahr ohne Sommer“ 1816, wurde noch kälter, brachte Schneestürme bis in den Frühsommer, heftige Gewitterstürme, Dauerregen und Überschwemmungen.
Wie bei der Corona-Pandemie hatte der gewaltige Vulkanausbruch Folgen für Wirtschaft, Kultur und Politik, und wie bei Corona kannte diese Naturgewalt keine Staatsgrenzen. Jedes Land reagierte damals unterschiedlich. Dem bereits industrialisierten England gelang es scheinbar mühelos, die Krise zu bewältigen, andere Staaten schlitterten in einen langanhaltenden Niedergang. Besonders betroffen von der Not waren das heutige Baden-Württemberg, die Schweiz und Österreich – Länder also, die weit weg vom Meer und damit den Häfen lagen, in denen immerhin Frachtschiffe mit Getreideimporten aus beispielsweise Russland anlegen konnten. Die Ernten fielen im Jahr 1816 nämlich komplett aus, schreckliche Hungernöte, wirtschaftliche Zusammenbrüche und Massenfluchten waren die Folge.
Zeitgenössische Erklärungsversuche
Das Entsetzen der Menschen steigerte sich noch, als man erkannte, dass die Krise nicht nur dem eigenen Landstrich betraf, sondern ein (fast) globales Ausmaß hatte, und natürlich fragte man sich nach den Ursachen. Der zumeist düstere, regenschwere Himmel, abends oft von flammenden Sonnenuntergängen unterbrochen (angeblich hatten diese den englischen Maler William Turner zu seinen großartigen Gemälden inspiriert), die ewige Nässe und Kälte, die überall beobachteten Sonnenflecken: All das ließ viele an einen bevorstehenden Weltuntergang glauben! Während sich die Regierenden in Hilflosigkeit ergaben und das Volk selbsternannten Propheten hinterherrannte, lieferte die Wissenschaft teils abstruse Erklärungsversuche: Die Sonne verliere zusehends an Kraft, schmelzende Eisberge am Nordpol würden die Kälte nach Süden schicken, selbst die Erfindung der Blitzableiter musste herhalten und erst recht der altbekannte Sündenbock, das jüdische Volk.
Dass die Klimakatastrophe von einem Vulkanausbruch herrührte, wusste man damals noch jahrzehntelang nicht, auch wenn es vereinzelt Vermutungen in diese Richtung gab. Bewiesen wurde die These erst 1913 in einer Untersuchung des amerikanischen Physikers William Jackson Humphrey. Die oben erwähnten Sonnenflecken hatten übrigens nichts mit einem bevorstehenden Kollabieren unseres Zentralgestirns zu tun, vielmehr waren diese Flecken durch die verschleierte Atmosphäre schlichtweg besser sichtbar.
Auswanderung
Die Tamborakrise hatte in Deutschland die bis dahin größte Auswanderungswelle seit der mittelalterlichen Ostbesiedelung ausgelöst. Mit dem Mut der Verzweiflung verließen die in Not geratenen Menschen ihre Heimat, um im fernen Amerika oder Russland ein neues und hoffentlich besseres Leben zu beginnen. Die ersten vierzig Familien aus Württemberg brachen bereits im Sommer 1816 aus der Waiblinger Gegend nach Russland auf, insgesamt wanderten in der Hungerzeit von 1816/17 allein aus Württemberg rund 17.500 Menschen aus. (Eine weitere große Auswanderungswelle gab es dann Mitte des 19. Jahrhunderts nach der Kartoffelfäule und der missglückten Märzrevolution von 1848.)
Wer es sich leisten konnte und den Mut dazu hatte, nahm die lange Schiffsreise nach Amerika auf sich. Doch schon in Amsterdam war die Reise für viele zu Ende, wenn das Ersparte nicht reichte: Zu Tausenden bevölkerten die Flüchtenden die Hafenstadt, in Elendsquartieren untergebracht, von betrügerischen Kapitänen um ihre Schiffspassage geprellt, und so fanden nicht wenige jetzt noch, fern ihrer Heimat, den Tod durch Hunger und Krankheit.
Königreich Württemberg
Zu einem Königreich wurde das jahrhundertealte Herzogtum Württemberg erst 1806 durch Napoleon Bonapartes Gnaden. Der Kaiser der Franzosen brauchte in seinem imperialen Machtbestreben deutsche Verbündete, die er im sogenannten Rheinbund sammelte und denen er im Gegenzug Handlungsfreiheit im Inneren sowie Gebietszuwächse zusicherte. So straffte der frischgebackene Württemberger König Friedrich, ein absolutistischer Despot, gleich einmal die Verwaltung seines Staates und schaffte die Privilegien sowohl des Adels wie auch der bürgerlichen Ehrbarkeit ab. Mit Hilfe der napoleonischen Gebietsneuordnung konnte Württemberg sein Staatsgebiet verdoppeln, zum (protestantischen) Altwürttemberg am mittleren Neckar kamen das katholische Oberschwaben mit all seinen geistlichen Territorien sowie zahlreiche einstige Reichstädte hinzu.
Der Preis dafür war hoch: Als Bündnispartner in den napoleonischen Kriegen ließen zigtausende von Württembergern ihr Leben, allein im desaströsen Russlandfeldzug 1812/13 über 15.000. Das Land selbst musste für die zahlreichen Truppendurchzüge und Einquartierungen bluten. Erst nach der für Napoleon verlorenen Völkerschlacht bei Leipzig (Oktober 1813) wechselte Württemberg zur siegreichen Gegenseite über, der Koalition aus Österreich, Preußen und Russland.
König Wilhelm I., der Erneuerer
Die Württemberger hatten das Glück, inmitten der schlimmsten Hungersnot einen Herrscherwechsel zu erleben. Nach dem plötzlichen Tod Friedrichs am 30. Oktober 1816 änderte sich mit seinem Sohn die Politik grundlegend. König Wilhelm I. erließ eine politische Amnestie, senkte die Steuern und erließ 1819, nicht ohne Druck durch die wiedererstarkten bürgerlichen Kräfte, eine umfassende Verwaltungsreform auf der Basis einer modernen Verfassung. Gemeinsam mit seiner Frau Katharina richtete er die Politik der ersten Jahre stark auf die Linderung der wirtschaftlichen Not breiter Bevölkerungskreise aus. Durch die neue Verfassung und einer weitreichenden kommunalen Selbstverwaltung entwickelten sich in dieser konstitutionellen Monarchie, im Vergleich zu vielen anderen deutschen Staaten, relativ starke liberale und demokratischen Strömungen, die sich auch nach der Niederschlagung der in Württemberg weitgehend friedlich verlaufenen deutschen Revolution von 1848/49 behaupten und verstärken konnte.
Wilhelm, der von 1816 bis 1864 herrschte und im Gegensatz zu seinem absolutistischen Vater eher liberal und volksnah gestimmt war, führte das Königreich allmählich aus der Hungerkrise heraus, indem er zur ersten Linderung der Not Höchstpreise für Lebensmittel festsetzte, deren Ausfuhr erschwerte und später verbot sowie große Mengen Getreide von außerhalb aufkaufte. Er ließ Obstbaumalleen und Streuostwiesen anlegen, wurde zum gefeierten Erneuerer von Agrarwirtschaft, Vieh- und Pferdezucht, gründete 1818 die Landwirtschaftliche Unterrichts-, Versuchs- und Musteranstalt in Hohenheim, aus der später die Universität Hohenheim hervorging. Im gleichen Jahr rief er ein „jährlich am 28. September zu Kannstatt abzuhaltendes landwirtschaftliches Fest“ ins Leben, das bis heute als Cannstatter Volksfest gefeiert wird. Ein weiteres Relikt aus Wilhelms Zeiten: Seine private Araberzucht mit Hengsten aus dem Orient begründete er in dem Vermächtnis, dass das Land die Tiere züchten solle „auf immer und ewig“ – woran sich Baden-Württemberg bis heute mit seiner weltberühmten Araberzucht im Haupt- und Landgestüt Marbach hält.
Wilhelms größtes Manko war mit Sicherheit, dass er sich zu sehr auf die Landwirtschaft konzentrierte, die von Wetterkapriolen abhängig blieb. Die Zukunft lag, wie England bewies, in der Industrialisierung, und hierzu brauchte es noch weitere politische Maßnahmen und vor allem das neuartige Verkehrsmittel der Eisenbahn, dessen Ausbau in Württemberg (1847 bis 1850) durch die bergige Topographie des Landes überaus kostspielig war. Aber auch hier blieb Wilhelm letztendlich am Ball und legte auf diese Weise nicht nur in der Hauptstadt, sondern überall im Land die Grundlage für eine noch heute weitgehend mittelständisch geprägte Industrie mit zahlreichen Arbeitsplätzen.
Königin Katharina, die Vielgeliebte
Katharina, Tochter der Zarin Maria Feodorowna, eigentlich eine geborene Sophie Dorothee Prinzessin von Württemberg, und des russischen Zaren Paul I., war zunächst von Napoleon als Ehefrau ausersehen worden, doch sie selbst und ihr Bruder Alexander, der spätere Zar von Russland, widersetzten sich dieser Verbindung erfolgreich. Stattdessen heiratete sie Herzog Georg von Oldenburg, der kurz nach der Geburt ihres zweiten Sohnes an Typhus starb. So heiratete sie in zweiter Ehe ihren württembergischen Cousin Wilhelm, mit dem sie zwei Töchter hatte.
Die Königin stand ihrem Mann an Engagement in nichts nach, wobei sie sich vor allem der Armenpflege und Bildung widmete. Aus jener Not 1816/1817 heraus gründete sie einen überregional tätigen Wohltätigkeitsverein, das heutige Wohlfahrtswerk Baden-Württemberg, darüber hinaus mit dem Katharinenstift ein Erziehungsinstitut für Mädchen (heute Königin-Katharina-Stift-Gymnasium), das Stuttgarter Katharinenhospital sowie mit der Württembergischen Landessparkasse eine der weltweit ersten Sparkassen für die kleinen Leute, um künftiger Not vorzubeugen.
Ihre Aktivitäten wurden unter anderem durch Spenden aus ihrem Privatvermögen, durch Katharinas Mutter und andere Mitglieder des Königshauses unterstützt. Sie starb viel zu früh und überraschend an einem Schlaganfall, am 9. Januar 1819 im Alter von nur 30 Jahren und nach nur drei Jahren Ehe. Wilhelm errichtete ihr auf dem Württemberg bei Stuttgart ein Mausoleum, auf dessen Portal er schreiben ließ: Die Liebe höret nimmer auf. Hat hier ein männliches schlechtes Gewissen die Feder geführt? War doch Wilhelm Zeit seines Lebens ein Frauenheld gewesen, der Katharina noch kurz vor deren Tod mit einer italienischen Baronin betrogen hatte…
Ausweg aus der Not
Vieles tat sich also nach der Hungerkrise, doch es sollte noch einige Zeit dauern, bis aus dem württembergischen Volk der Hungerleider ein Volk der Tüftler und Schaffer wurde. Die Großzügigkeit einer Königin Katharina, die Reformen eines König Wilhelms konnten nur begrenzt über die Not hinweghelfen: Das kleinbäuerliche, zunfthandwerkliche System brachte zunächst nur neue Armut hervor, trotz der halbwegs guten Ernten. Die Armenspeisungen blieben, Holzdiebstähle und Straßenbettel waren an der Tagesordnung, denn die Haushalte waren zutiefst verschuldet.
Früchte trugen all diese Bemühungen erst Jahre später, hierzu brauchte es noch den unter Wilhelm gelockerten Zunftzwang (1828), den Deutschen Zollverein (1834) und ein liberalisiertes Niederlassungsrecht zwischen den deutschen Staaten, das mehr Mobilität schaffte. Und natürlich das neuartige Verkehrsmittel der Eisenbahn. Zusammen mit der endgültig abgeschafften Leibeigenschaft und Wilhelms fortschrittlicher Verfassung trug dies zum wirtschaftlichen Aufstieg Württembergs und zu einem im Vergleich mit anderen europäischen Staaten jener Zeit ausgeglichenen sozialen und auch liberalen Klima bei.
Dieser Aufschwung, wenn auch zwei Generationen später als in England, wurzelte nicht zuletzt in dem für damalige Zeiten erstaunlich gebildeten Handwerk und erblühte übrigens vor allem in Neckarschwaben, dem pietistischen Kernland Württembergs. Aus dem bitterarmen Land ohne Bodenschätze und mit extrem kleinteiliger Landwirtschaft wurde nicht nur das Land der Dichter und Denker, sondern auch der Unternehmer und Erfinder, wofür so berühmte Namen stehen wie Carl Heinrich Knorr, Robert Bosch, Gottlieb Daimler, Wilhelm Märklin, Matthias Hohner, Margarete Steiff. Nicht zu vergessen die schwäbischen Dichter und Denker: Ludwig Uhland, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Georg Herwegh, Hermann Hesse, Albert Einstein, Max Horkheimer sowie der Maler Oskar Schlemmer oder der Hollywoodbegründer Carl Lämmle, um nur einige zu nennen.
Raues Leben auf der Rauen Alb
Ein letztes Wort zu meinem Schauplatz Hohenstetten: Hierbei handelt es sich um einen fiktiven Ort auf der Schwäbischen Alb, jenem Mittelgebirge zwischen Schwarzwald und Donau. Manche Leserinnen und Leser werden sich an die Weber-Orte Laichingen und Feldstetten erinnert fühlen, was kein Zufall ist. Mein Hohenstetten ist ein Konglomerat aus beiden Orten, basierend auf Recherchen zu eben jener Gegend, die auch Raue Alb genannt wird.
Diese klimatisch ungünstige, windreiche Hochfläche der mittleren Alb wurde schon im 18. Jahrhundert als „schwäbisch Sibirien“ bezeichnet, dazu sind die Böden karg und steinig, Wasser ist eher rar. Ungünstig also für Viehzucht und Ackerbau, dazu fern der Hauptstadt. Doch die Menschen wussten sich zu helfen: Man verknüpfte die Landwirtschaft mit hausindustrieller Leinenweberei, wofür Flachs angebaut wurde, und war durchaus erfolgreich damit. Im 18. Jahrhundert sprach man sogar von einem goldenen Zeitalter der Leinenweberei, die einen gewissen Wohlstand sicherte.
Doch mit den Franzosenkriegen und erst recht mit den Ernteausfällen im „Jahr ohne Sommer“ war gerade diese Region von der Krise besonders betroffen. Es gab nichts mehr zu ernten, der Handel mit Leinen brach völlig ein. Die Menschen hungerten oder starben, wanderten aus oder – wie einige wenige überall im Land – bereicherten sich am Elend der anderen. So steht Hohenstetten also für einen Mikrokosmos in Zeiten schwerer Not, wobei sämtliche Figuren meiner Fantasie entsprungen sind.