Hintergrundinformationen - "Die Bettelprophetin"


Die historische Therese Ludwig


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Schon als Säugling wird Therese Ludwig ihrer Mutter entrissen. Landjäger (siehe Bild von Carl Spitzweg) haben sie und ihre Mutter, die ledig und wohnsitzlos durch Oberschwaben vagabundiert, aufgestöbert: Die Mutter kommt ins Arbeitshaus, die Tochter in eine Pflegefamilie auf die Schwäbische Alb. Im Alter von acht Jahren steckt man Therese ins “Vagantenkinderinstitut” von Weingarten, das in der ehemaligen Benediktinerabtei untergebracht ist. Wie damals üblich, wird sie vierzehnjährig entlassen und muss sich als Magd verdingen, zunächst in einem Pfarrhaus bei Biberach, später in verschiedenen Haushalten und Hofhaltungen.

Sie lebt bald am Rande der Armut, schlägt sich mit Bettelei und kleineren Diebstählen durch. Auf ihren ziellosen Wanderungen durch Oberschwaben landet sie mal im Gefängnis, mal im Arbeitshaus, schließlich immer häufiger im Spital, ihrer zerrütteten Gesundheit wegen. Als sie schwanger wird, nimmt man auch ihr das Kind weg, und ihr droht dasselbe elende Schicksal wie ihrer Mutter: ein Leben zwischen Landstraße und Zuchthaus.

Bis sie im Ravensburger Spital auf den charismatischen katholischen Pfarrer Patriz Seibold trifft. Er soll der Schwerkranken, die in einem Anfall von Verzweiflung Gott und Kirche verflucht, den Teufel austreiben. Gegen den Willen von Kirchenleitung und weltlicher Obrigkeit nimmt der 44jährige Seibold die junge Frau bei sich in Weißenau auf, einer kleinen Gemeinde südlich von Ravensburg. In seiner Obhut fasst Therese wieder neuen Lebensmut. Die Menschen dort lieben und bewundern sie, und während sie schließlich, nach einer wundersamen Marienerscheinung gar als Prophetin und Volksheilige verehrt wird, wird die Beziehung zwischen ihr und dem Pfarrer immer enger. Zu eng: Gegen Therese ergeht ein Haftbefehl, wegen des Diebstahls eines Taschentuchs, und Seibold wird seitens des Rottenburger Bischofs angewiesen, seinen Schützling aus dem Pfarrhaus zu entfernen. Ansonsten drohe ihm die Amtsenthebung.

Doch die Kirchenleitung hat weder mit der Widersetzlichkeit des Pfarrers noch mit dem Eigensinn der Weißenauer Gläubigen gerechnet. Wie eine Brandmauer stellen sie sich vor Therese und verhindern ihre Auslieferung. Als drei der Widerständler festgenommen und nach Ravensburg verbracht werden, kommt es am 3. November 1848 vor dem dortigen Oberamtsgericht zu einem Aufstand: Die aufgebrachte Menschenmenge fordert die Freilassung der drei Männer und stürmt schließlich das Gebäude, es kommt zu Tätlichkeiten gegen Amtspersonen. Vergeblich ersuchen diese Bürgerwehr und Militär um Hilfe, und als die Menge bedrohlich anwächst, lässt man die Gefangenen frei.

Die Folge: Seibold wird seines Amtes enthoben und für ein Dreivierteljahr im Rottenburger Korrektionshaus inhaftiert, während Therese unter Hausarrest gestellt wird. Sie gewaltsam aus dem Kreis der Weißenauer zu holen, hat man offensichtlich nicht gewagt. Nach einer kurzen Zeit der Freiheit wird Seibold, der sich weiterhin mit Therese und Mitgliedern seiner Gemeinde trifft, erneut verhaftet und muss im Mai 1850 nach Amerika emigrieren, Therese, der ebenfalls die Verhaftung droht, ist derweil untergetaucht. Als sie im März 1850 aufgegriffen wird und ins Arbeitshaus soll, droht sie mit Selbstmord. Gegen das Versprechen, ebenfalls nach Amerika auszuwandern, bleibt sie auf freiem Fuß. Drei Monate nach Patriz Seibold verlässt auch sie ihre Heimat in Richtung Neue Welt.

Übrigens habe ich, so weit es in Erfahrung zu bringen war, historische Nebenfiguren verwendet: etwa die Leiter des Waisenhauses Christian Heinrich Fritz, Wilhelm Ludwig Heintz und später dann Gustav Adolf Cornaro Rieke sowie Personen aus Politik und Wirtschaft. Auch den Ringschnaiter Pfarrer Peter Konzet gab es (als Dienstherr von Therese) tatsächlich. Was ihre Charaktere betrifft, habe ich natürlich meine Fantasie spielen lassen. Wer der Vater von Thereses Kind war, ist allerdings nicht bekannt, und so habe ich den schneidigen Hochstapler Kasimir erfunden.


Unruhige Zeiten

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“Die Bettelprophetin” spielt im Königreich Württemberg am Vorabend der industriellen Revolution. Diese Zeit um 1848 ist, ähnlich dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, eine Zeit des Umbruchs. Die mittelalterlichen Zünfte lösen sich auf, Grundherrschaft und Lehenswesen ebenfalls, was die Bauern gegen hohe Ablösesummen frei werden lässt. Zugleich erschüttern wirtschaftliche und politische Krisen ganz Deutschland, von England her schwappt die industrielle Revolution herüber und lässt bald schon jahrhundertealte Arbeits- und Lebensweisen nichtig werden, zwingt sie unter den Takt von Zahnrad und Dampfkraft.

Noch um 1830 gilt das Pferd als Zeitmaß, das Tagwerk als Flächenmaß. Zumal in einem Land wie Württemberg, das abseits der großen Märkte liegt, keine Bodenschätze, wenig große Städte aufweist, wo der Regent “König der Landwirte” genannt wird, jener König Wilhelm, der sich mehr für Pferde und Landwirtschaft begeistert (er hat das Cannstatter Volksfest ins Leben gerufen und die landwirtschaftliche Hochschule Hohenheim), für schöne Frauen und seine Wilhelma als für die neuartigen Fabriken und Maschinen.

Doch im Herzen des Landes, in Neckarschwaben, schreitet die Entwicklung voran, im gebildeten Handwerk, bei den Naturwissenschaftlern – dort, wo Landnot als Folge der Erbteilung und pietistischer, tüftlerischer Fleiß zusammenkommen. Bald schon, noch vor der Jungfernfahrt der legendären “Adler” zwischen Nürnberg und Fürth, plant König Wilhelm eine Eisenbahnlinie: Zwischen Stuttgart und Ulm soll die Bahn verkehren und weiter an den Bodensee, in das neu hinzugekommene Oberschwaben. Dieser Landstrich mit seinen großen, reichen Hofstätten soll enger an die Residenz gebunden werden.

Wilhelms Vater nämlich war von Napoleon, mit dem er sich verbündet hatte, nicht nur zum König gemacht worden, sondern hatte auch noch zahlreiche freie Reichsstädte, die habsburgischen Schwabenlande und sämtliche geistlichen Territorien im Oberland dazugewonnen. Genau dies aber wird dem protestantischen Wilhelm, dem pietistischen Alt-Württemberg nun zum Problem. Denn die Oberschwaben sind tiefgläubig – und zwar katholisch!


Vormärz und Revolution

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1815, nach dem Sieg über Napoleon, wird Europa von den Siegermächten Russland, England, Österreich und Preußen neu geordnet, und der “Deutsche Bund” von 35 deutschen Fürsten und vier Städterepubliken, mit Bundestag in Frankfurt, entsteht. Diese Zeit zwischen dem Wiener Kongress von 1815 und den Revolutionen von 1848/89 wird gemeinhin Vormärz genannt.

Es ist eine Zeit künstlicher Ruhe, aber auch des außenpolitischen Friedens; die Zeit von Metternichs Kontrolle und Zensur, aber auch von Wartburgfest, Hambacher Fest und Julirevolution. Zwei Strömungen prägen diese Zeit: die aufklärerische, “jungdeutsche” mit ihren neuen, sozialreformerischen Ideen und die romantische, “biedermeierliche” mit Hausmusik, bürgerlicher Liedertafel, eng-behaglichen Stuben, der Flucht ins Idyll und ins Private.

Die Zeit der Aufbruchsstimmung, der eigentliche Vormärz, beginnt mit der Pariser Julirevolution von 1830. Neben Presse- und Vereinsfreiheit, Bürgerwehr und nationaler Einheit fordern die Bürger ein demokratisches deutsches Parlament. Symbol hierfür wird die Frankfurter Paulskirche. Das sogenannte Hambacher Fest in 1832 gestaltet sich zu einer Massendemonstration für Einigkeit, Freiheit und Demokratie. Danach allerdings werden Presse- und Versammlungsfreiheit erneut drastisch eingeschränkt.

Geht es dem gebildeten Bürger eher um liberale Rechte, fordert das Volk hingegen eine Revolution, wie sie der Dichter Georg Büchner formulierte: “Friede den Hütten, Krieg den Palästen”. Denn die Arbeiter können sich von ihrem Lohn kaum ernähren, viele Handwerker gehen bankrott in Folge der ausländischen Konkurrenz (Gewerbefreiheit) und des Verlustes der schützenden Zünfte.

Ab 1845 zeigt sich ein deutlicher Stimmungswandel, erst recht nach den Missernten von 1846 und 1847. Teuerung und Verknappung der Lebensmittel sind die Folge, das Brot wird täglich teurer, die Kartoffelfäule vernichtet eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel. Selbst im eher ruhigen, behäbigen Württemberg mit seinem relativ liberalen König kommt es im Mai 1847 zu Hungerkrawallen in Stuttgart und Ulm, Blaubeuren und Tübingen. Die Obrigkeit wie der reiche Bürger sind entsetzt über die Gewaltbereitschaft des sogenannten “Pöbels”. Man sieht zwar sehr wohl die Ursachen in “Theuerung und Noth”, fürchtet aber “communistische Umtriebe” und schafft sich in vielen württembergischen Städten eine bewaffnete Sicherheitswache: Nötigenfalls müsse man Gewalt auch mit Gewalt vertreiben!

Im Jahr 1848, erst recht nach der Februar-Revolution in Paris, kommt es auf Straßenfesten und Märkten immer häufiger zu spontanen Tumulten, Charivari (Katzenmusik) genannt, mit Topfdeckelschlagen und Hochrufen auf die Republik, mit Steinwürfen und Stockschlägen gegen Fenster und Türen von Amtsgebäuden, mitunter auch gegen Beamte. Und allerorten fordert das Volk den Rücktritt der lokalen Obrigkeit.

Nur durch seine Kompromissbereitschaft konnte damals König Wilhelm größere Revolten verhindern. Womöglich lag es aber auch daran, dass Württemberg viel weniger industrialisiert war als etwa der Nachbarstaat Baden. Aber auch dort scheiterte die Revolution im Sommer 1849 endgültig, und die Freischärler Hecker und Herwegh mussten fliehen.


Frauen und Armut

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Armut war im 19.Jahrhundert zu einem Massenphänomen geworden. Zunehmend waren auch Bauern, Handwerker und niedere Staatsdiener betroffen, und wie eh und je ledige Frauen, Witwen, Mütter mit unehelichen Kindern. Dabei galt Armut nicht mehr, wie in den Jahrhunderten zuvor, als gottgegeben, mit dem Trost auf himmlische Freuden nach dem Tod, sondern als selbstverschuldet.

Mancherorts galt ein Drittel der Menschen als völlig verarmt. Längst versteckte sich das Elend nicht mehr in den Köhler- und Hirtenhütten auf dem Land oder in den Dachkammern der städtischen Hausarmen, sondern wurde überall sichtbar mit seinen Bettel- und Vagantenhorden, den Elendsvierteln in den Städten. Im ländlichen Oberschwaben vagabundierten besonders viele Besitz- und Wohnsitzlose von Ort zu Ort, auf der Suche nach Arbeit oder Almosen.

Diese Not war eine vorindustrielle (von Ausbeutung durch die Fabrikherren konnte erst nach 1850 die Rede sein): Arbeitslose oder unterbezahlte Taglöhner konkurrierten in der Stadt um die wenigen Arbeitsmöglichkeiten mit unzähligen Landflüchtigen, die ihre Scholle und dörfliche Heimindustrie nicht mehr ernährten. Ihren Höhepunkt fand die Not dann in den Hungerjahren von 1845 bis 1847 –in deren Folge wanderten über 70.000 Württemberger aus.

Wer blieb, wollte das Elend nicht länger geduldig erleiden, und mit der Masse der Betroffenen stieg auch die Gefahr des Aufruhrs. Frauen waren bei solchen Hungerkrawallen immer vorneweg – hier endlich konnten sie, die ja keine bürgerlichen Rechte besaßen, ihren Unmut, ihre Wut äußern.

Seit Jahrhunderten hatte sich an der Stellung der Frau kaum etwas geändert – vor allem, was die Unterschicht betraf (klassische Fabrikarbeiterinnen gab es erst ab 1840). Die nichtbürgerliche Frau arbeitete als Taglöhnerin, Dienst- oder Hofmagd, verdiente sich mit Heimarbeit ein paar Kreuzer dazu. Ihre Bildung war nur elementar: Mit Ausnahme des Stuttgarter Katharinenstifts waren Mädchen von höherer Schulbildung ausgeschlossen (die erste städtische Mädchen-Mittelschule wurde 1860 gegründet), und die wenigen teuren Privatschulen konnten sich nur höhere Töchter leisten. Ohnehin sollten Frauen nur Gebet- und Messbücher lesen (Romane galten als sündhaft und verdorben) und sich ansonsten auf ihre höchste Aufgabe, die Mutterschaft, vorbereiten.

Doch nicht einmal dieses Ziel war für Frauen aus der Unterschicht so leicht erreichbar. Für jede Heirat nämlich war eine Behördengenehmigung nötig. Und die wurde, nach einem oft demütigenden Bittgang zum Schultheißenamt, nicht selten verweigert wegen “ungenügenden Nahrungsstandes” oder “liederlichen Lebenswandels”.

Die Folge: immer mehr “wilde Ehen”, immer mehr uneheliche Geburten, die als Unzuchtvergehen bestraft wurden. Wobei die Strafe für die Frau erheblich härter ausfiel als für den Mann. Zugleich war sexuelle Gewalt in der Unterschicht eine alltägliche Erfahrung, gerade für Dienstmägde, und das einzige Mittel der Gegenwehr war, vom Mann ein Schweigegeld zu fordern. In den größeren Städten schließlich wurden Winkelbordelle und Gassenhurerei immer alltäglicher, wurde Prostitution für manch ledige Frau zur einzigen Möglichkeit, zu überleben.

Von den Frauen des städtischen Bürgertums trennte sie eine tiefe Kluft. Nicht selten liberal angehaucht, schrieben diese Leserbriefe, besuchten Vorträge, unterhielten Salons und Lesezirkel, Liederkranz- und Frauenvereine. Und Spendenaktionen für arme Frauen! Nicht selten waren sie glühende Verfechterinnen der deutschen Einheit, organisierten sich zu politischen Festen und Kundgebungen, für die sie Fahnen stickten, “um zur Erstarkung Deutschlands das Ihrige beizutragen”. Doch wehe, wenn sie in aufrührerischen Reden mehr Freiheit forderten – der Widerstand selbst von demokratisch gesinnten Männern war ihnen sicher. Denn auch die wünschten sich die “sanfte und bescheidene Frau”, das “jugendlich frische, natürlich heitere und sittlich tüchtige Mädchen.”


Vaganten

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In Krisenzeiten zog über ein Viertel der Menschen wohnsitzlos über Land. Dort, wo es keine Armenfürsorge gab, waren die Vaganten anfangs durchaus akzeptiert, solange sie sich freundlich und ordentlich verhielten. Es gehörte zum Alltag, ein Stück Brot zu geben, wenn jemand an die Tür klopfte. Doch mit den verschärften Bestimmungen seitens der Obrigkeit, mit den neuartigen Leitbildern des Leistungsdenkens, entstanden Angst und Ablehnung. Nicht nur der Obrigkeit, auch den Sesshaften galten die Vaganten nun als liederliche Bettler, als diebisches und verdächtiges Gesindel.

Sich niederlassen konnten sie kaum, da es teuer war, sich als Neubürger in Gemeinden einzukaufen. Wer unehelich geboren war, hatte ohnehin kein Anrecht auf das Bürgerecht. Im Sommer lebte man von Erntearbeit, ansonsten durch (illegalen) Kleinsthandel, Bettel, Mundraub von Feldern, wo man heimlich Kartoffeln ausgrub oder Ähren zupfte, oder dem Diebstahl von Federvieh. Den Winter über ging man in Taglohn bei Bauern oder stellte sich krank und suchte ein Spital auf.

Ein ständiges Problem waren die Kontrollen durch Landjäger. Es war verboten, sich ohne Passier- oder Heimatschein außerhalb der heimatlichen Gemeinde aufzuhalten. Für jede längere Reise war ein Pass nötig, mit fester Marschroute und Personenbeschreibung, und die einzelnen Stationen mussten von der örtlichen Obrigkeit abgezeichnet werden. Das Wandern war bald nur noch zur Arbeitsplatzsuche erlaubt: den Gesellen, den Saisonarbeitern und Erntehelfern oder dem Gesinde für die Zeit zwischen zwei Arbeitsperioden. Wer eine Lizenz hatte, die allerdings nur Männern vergeben wurde, durfte als Hausierer, Kleingewerbler, Lumpensammler oder Kesselflicker gehen.

Therese Ludwig war also keineswegs eine Ausnahme. Zu der wachsenden Zahl von Illegalen zählten oft alte Witwen ohne Familie und ledige Mütter. Um einer Unzuchtstrafe zu entgehen, vagierten letztere mit ihren Kleinkindern auf der Straße, immer in der Angst, aufgespürt zu werden und im Arbeitshaus zu landen, zur “Umerziehung” durch Zwangsarbeit, Kirchenbesuch und Religionsunterricht, von ihren Kindern entrissen. Ihre scheinbare Freiheit auf der Landstraße, um den Preis der Heimatlosigkeit, endete nicht selten in der Gefangenschaft.


Armenfürsorge

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Die meisten Einrichtungen zur Fürsorge reichen zurück ins Mittelalter: Hospitäler, Waisen- und Findelhäuser, Almosen- und Schulstiftungen, Seelhausstiftungen für alte Frauen, Lazarette für Sondersieche, Blatternhäuser. Im 19. Jahrhundert kamen Zucht- und Arbeitshäuser, Suppenküchen, Wärme- und Speisestuben hinzu. Die Zwangsanstalten jeder Art beruhten auf vier Grundpfeilern: Disziplin, Einschließung anstelle von Leibesstrafen, Erziehung durch Arbeit und Gebet sowie wirtschaftliches Ausnutzen von Arbeitskraft.

Eine Armenkommission prüfte die Bedürftigkeit immer wieder aufs Neue, oft in entwürdigenden Verhören. In Württemberg erfolgte die Musterung durch den sogenannten Kirchenkonvent, dem Ortsvorsteher, Ortsgeistliche, Stiftungsverwalter und Stadträte angehörten. Neben der Almosenvergabe und Einweisung in die jeweilige Anstalt oblag ihm auch die Schulaufsicht.

In Ravensburg sind vor allem zwei Einrichtungen hervorzuheben: Das Heilig-Geist-Spital (Bachstraße 57) und das Bruderhaus (Grünerturmstraße 38). Das Spital ist bereits seit 1330 städtisch. Seit jeher diente es als Altersheim, in das sich Bürger einkaufen konnten. Im 19. Jahrhundert wurde es zum Obdach für “Arme 1. Klasse”, für Arbeitsunfähige ohne Vermögen und zahlende Verwandte. Hinzu kamen vierzehn Krankenzimmer für allein stehende Dienstboten und Arbeiter sowie je eine große Arbeitsstube für Männer und Frauen, die sogenannte Armenbeschäftigungsanstalt. (Ein Gang durch die historische Anlage, die heute zur Oberschwabenklinik gehört, und in die hauseigene Kapelle lohnt sich unbedingt.)

Das Ravensburger Bruderhaus (heute Altersheim) war der “2. Klasse der Armen” zugedacht. Hier fanden sich Arbeitslose und Obdachlose, die kein Auskommen mehr hatten, ledige Mütter zur Entbindung, bedürftige Kranken sowie, in einer separaten Stube, Geisteskranke, und vor allem jene, die wegen “moralischer Verdorbenheit” und “constanter Unsittlichkeit” zwangseingewiesen wurden und unter polizeilicher Aufsicht standen. Gearbeitet wurde in der Arbeitsstube oder in den Betrieben der Stadt.


Waisen und “verwahrloste Kinder”

Bis 1837 wurden die Kinder von “Verwahrlosten” oder von “gefallenen Mädchen” wie die Waisen auch in den Spitälern untergebracht. Hinzu kamen die beiden großen Staatsanstalten in Stuttgart und Weingarten sowie die “Anstalt für verwahrloste Waisen” in Wilhelmsdorf, einem pietistischen Dorf der Brüdergemeinde Kornthal inmitten des katholischen Oberschwaben.

Nach 1837 ging man mehr und mehr dazu über, die Kinder in Pflegefamilien unterzubringen. Meist waren dies vom Kirchenkonvent ausgesuchte einfache Handwerker und Bauern, denen die Pflegschaft ein lukrativer Zugewinn bedeutete. Vormund blieb der Pfleger, von der Stiftungsverwaltung bestimmt, der die Eltern kontrollierte: Gewissenhaft mussten sie auf Moral und Physis der Pfleglinge achten und auf einen regelmäßigen Schulbesuch.

Immerhin hatte Württemberg ein relativ fortschrittliches Volksschulgesetz mit Schulpflicht von 7 bis 14, für Jungen wie für Mädchen. Die Schulleitung lag beim Pfarrer, im Auftrag des Staates. Speziell für Kinder aus prekären Verhältnissen waren die Industrieschulen entwickelt worden, die sie zusätzlich zur Volksschule besuchten. Dort sollten sie zu Arbeit und Gewerbefleiß herangezogen werden: Die Mädchen lernten Kochen, Weißnähen, Spinnen, Flicken, Stricken und Häkeln, die Buben Gartenbau, Drechseln, Schreinern und Weben.

Bis zum 14. Lebensjahr blieben die Kinder in ihrer Pflegefamilie, danach begann das Arbeitsleben oder – seltener - eine Ausbildung, die vom Armenfond bezahlt, aber zurückerstattet werden musste. Für die Knaben wurden Lehrgeld und Kleidungskosten übernommen, sogar Stipendien waren möglich.

Theres Ludwig hatte beides erlebt: die Kindheit in einer Pflegefamilie, die Jugendjahre im Vagantenkinderinstitut Weingarten, das dem dortigen Waisenhaus angeschlossen war. Am Ende hat sie mit dem neuen Oberinspektor Gustav Rieke sogar vom reformerischen Gedankengut nach Pestalozzi und Fröbel profitieren dürfen, die eine Wende in der Pädagogik einleiteten.


Volksaufstand und Volksfrömmigkeit - Religiosität als Ausdruck des Widerstands

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Die Hungerkrawalle und Straßenschlachten gegen die Obrigkeit von 1848 waren das eine. Bei den Menschen im katholischen Oberland kam noch etwas anderes hinzu: Das protestantische Alt-Württemberg, dem sie einverleibt worden waren und dessen Beamte nun vor Ort nach dem Rechten sahen, hatte ihnen ihre kirchlichen Rituale, Feste und Wallfahrten genommen, ihren “guten alten ehrlichen Glauben”, und dafür nichts neues gegeben, im Gegenteil: Der neue materialistische Zeitgeist befahl, nach Gewinn und Erträgen zu rennen und führte doch nur in eine innere Leere und Trostlosigkeit.

König Wilhelm selbst war kein Pietist. Den Kirchen stand er eher fern, bemühte sich aber um die katholische Eingliederung. Nur konnte er nicht ungeschehen machen, was unter seinem Vater geschehen war. Mit der Neuordnung Deutschlands von 1803 hatte die katholische Kirche ihre Macht verloren, die geistlichen Fürstentümer waren aufgelöst, die Klöster und Abteien säkularisiert (enteignet), der Papst hatte keinen Einfluss mehr. Im Oberland mit seinen reichen und prächtigen Klöstern wurde dies besonders offensichtlich. Zwar waren die Menschen von der Grundherrschaft ihrer geistlichen Herren entbunden, verloren aber auch ihre Arbeitsplätze und ihre geistlichen Zentren. So zog in die Klosterbauten von Weißenau eine Bleich- und Appreturfabrik, ins Kloster Zwiefalten die “Königliche Staats-Irrenanstalt”, in die Benediktinerabtei Weingarten das “Waisen- und Vaganteninstitut”.

Mit dem Niedergang der katholischen Kirche erstarkte indessen, nicht nur in Oberschwaben, die Volksfrömmigkeit mit seiner Heiligen-, Marien- und Engelsverehrung, mit seinem starken Element von Gefühl und Gemüt, mit seinem mystisch-religiösen Erleben und einer Vielzahl wundertätiger Frauen aus dem Volk, aber auch mit seinem Bemühen um lebendiges Christentum in tätiger Nächstenliebe. Eine gute Portion rebellischer Eigensinn kam bei den Oberländern noch hinzu.

Der Aufstand der Weißenauer rund um Therese Ludwig und Pfarrer Seibold lässt sich also deuten als eine Revolte anarchischer Volksfrömmigkeit gegen Staat und Kirche: gegen einen Staat, der die Kirche gängelt, und gegen eine Kirche, die sich mit diesem allmächtigen Staat arrangiert hat. Mit dem Aufbegehren, ja Hass gegen die aufgezwungene Monarchie, gegen Polizeistaat und kirchliche Staatsdiener ging zugleich eine religiöse Radikalisierung hin zu Wundergläubigkeit und mystischen Erlebnissen einher.

Die historische Therese Ludwig, diese vom Schicksal und den Lebensumständen sicherlich traumatisierte junge Frau, wurde am Ende von der Staatskirche zur Betrügerin gestempelt, von der Obrigkeit als hysterisch-krank und verrückt beschimpft und von den Menschen rund um Ravensburg als Visionärin und Prophetin verehrt. Wer und was sie wirklich war, wird sich heute, nach über 150 Jahren, nicht mehr klären lassen.

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