Hintergrundinformationen - "Henkersmarie"


Der historische Kern meiner Geschichte

files/AstridFritz/Bilder ab Henkersmarie und Sera3/Nuernberg Henkersteg.jpgDen Anstoß zu diesem doch recht düsteren Stoff gab mir eine kleine historische Begebenheit: Ein Rothenburger Scharfrichter (seinen Namen konnte ich leider nicht in Erfahrung bringen) wurde um 1525 nach Nürnberg beordert, um dort den erkrankten Meister Gilg zu vertreten: Eine junge Kindsmörderin sollte in der Pegnitz ertränkt werden. Den Rothenburger überwältigte das Mitleid mit seinem Opfer und so machte er, unter Verzicht seines hohen Lohns hierfür, von dem alten Recht des Losheiratens Gebrauch. Als ich davon las, setzte das sofort meine Fantasie in Gang: Wie würde sich eine solche Ehe entwickeln, wie konnte man den schändlichen Ursprung der Ehe vor anderen geheim halten, wie wuchsen vor allem die eigenen Kinder auf?

Da man über den weiteren Lebensweg des Brautpaars nichts weiß, sind meine sämtlichen Hauptfiguren natürlich fiktiv. Historisch belegt indessen sind viele Episoden im Buch um den Alltag eines Scharfrichters. Aufgrund meiner Recherchen entstand somit das Porträt einer Scharfrichterfamilie zu Beginn der Frühen Neuzeit. Belegt ist übrigens auch der erwähnte erste Freiburger Hexenprozess von 1546, in dessen Folge die Basler Besenmacherin Anna Schweizerin bei lebendigem Leib verbrannt wurde (siehe auch Kapitel 1 meines Romans „Die Hexe von Freiburg“).


Die Schauplätze

Um meinen Hauptschauplätzen Rothenburg, Schwäbisch Hall und Basel historisch gerecht zu werden (der Nebenschauplatz Freiburg ist mir ja vertraut) hatte ich mich neben Internetrecherchen aufgemacht, die dortigen Gassen zu durchwandern, Museen zu besuchen, in Stadtführern und Stadtgeschichten zu stöbern – immer auch auf der Suche nach den Richtstätten und Scharfrichterhäusern, was nicht ganz einfach war, da die Quellen für Anfang des 16. Jahrhundert hierzu oft widersprüchlich sind. Was die Namen der damals bekannten Persönlichkeiten betrifft, habe ich mich um Authentizität bemüht. Etwaige Fehler bei den Darstellungen der Örtlichkeiten möge man mir als Ortsunkundige verzeihen.

files/AstridFritz/Bilder ab Henkersmarie und Sera3/RB_merian_1648.jpgRothenburg: Die Wohnstatt des Nachrichters ist für das 14. Jahrhundert im Sülzengässchen erwähnt, für das 16. Jahrhundert dann im Haus Freudengässchen 13, das ich denn auch zum Schauplatz gemacht habe, einem damals wohl recht ärmlichen Viertel der einfachen Leute und Unehrlichen. Draußen vor dem Galgentor befand sich der gemauerte „Rabenstein“ für die Enthauptungen, noch ein Stück weiter an der Würzburger Straße, wie üblich weithin sichtbar, der Galgen. Am Markt, wo an der Südostecke des Rathauses der Pranger angebracht war, wurde bei Schauprozessen, wie etwa den Massenhinrichtungen nach den Bauernkriegen, auch enthauptet. Ertränkt wurde nicht in der Tauber, sondern im Turmseelein, einem Weiher beim heutigen Philosophenweg.

files/AstridFritz/Bilder ab Henkersmarie und Sera3/Schwaebisch_Hall_1580_Frans_Hogenberg.jpgSchwäbisch Hall: Einen Henker namens Hans Vollmer (der Vater meiner Hauptfigur Maria), gab es 1540 in Hall nicht. Indessen ist seit 1545 ein Ulrich Marschalk verzeichnet, gefolgt von dessen Sohn Jerg (hier zeichnet sich die Vererbung des Amtes schon ab). Das 1480 errichtete und 1525 erweiterte Scharfrichterhaus Im Weiler 40 ist noch heute zu sehen - in die Vorstadtmauer gebaut, nahe des sogenannten Henkerturms. Als Verliese wurden vor allem der Sulferturm, der Faulturm, der Schuldturm, der Malefizturm und der Diebsturm genutzt, ebenso das Spitalgewölbe. Eine Folterkammer gab es im Neuen Turm auf dem Rosenbühl, gleich neben dem historischen Neubau (Zeughaus und Getreidespeicher). Die Richtstätte mit Galgen und Rad befand sich auf dem Galgenberg (heute Friedensberg genannt) im Osten der Stadt: Eine alte Ansicht von 1880 zeigt ihn mit vier, durch Balken verbundene Steinsäulen auf einem hohen Sockel. Die Köpfstatt für die ehrenvollere Strafe des Enthauptens hingegen war auf der Gelbinger Gasse vor dem äußeren Stadttor, geschwemmt wurde in einem Eisenkäfig von der Ritterbrücke, auch Henkersbrücke genannt. Ort der Leibes- und Ehrenstrafen war der Marktplatz, wo heute noch der gotische Bühnenpranger von 1509 zu sehen ist.

files/AstridFritz/Bilder ab Henkersmarie und Sera3/Henkerhaus Basel.jpgBasel: Hier wohnte der Scharfrichter auf dem Kohlenberg, einem besonders verrufenen Viertel. Das Haus existiert nicht mehr, wohl aber gibt es eine alte Ansicht aus dem 19. Jahrhundert (siehe Bild), das das Basler Scharfrichterhaus mit seinen Anbauten zeigt und fast schon an ein idyllisches Pfarrhaus erinnert. Und auch sein Standort ist bekannt. Wird dieser von Heimatforschern allerdings zumeist auf die Abzweigung Kohlenberggasse/Ecke Kanonengasse situiert (Kohlenberg 17, dort, wo sich heute das Gymnasium Leonhard befindet), so bin ich durch einen Vergleich dieser alten Ansicht mit den Merianstichen von 1615 und 1642 zu einem anderen Schluss gekommen: Ein sehr ähnliches Anwesen findet sich dort nämlich etwas weiter südlich in der Kohlenberggasse.
Unumstritten ist der Standort des dreibeinigen Galgens auf dem Gellert: Draußen vor der St. Alban-Vorstadt, in der Gellertstraße/Ecke Galgenhügel-Promenade, ist eine Gedenkstätte errichtet, indem man das Dreiecksfundament rekonstruiert und an der Stelle der drei Steinsäulen jeweils einen Baum gepflanzt hat. Hingegen ist von der Enthauptungsstätte, dem sogenannten Kopfabheini, nichts mehr zu sehen. Sie lag vor dem Steinentor, wo heute der Parkplatz des Baslers Zoo zu finden ist. Die Leibes- und Ehrenstrafen wurden auf dem Kornmarkt (heute Marktplatz) vollzogen, als Kerker dienten u.a. Kunos Turm, Spalenturm, Rheintor und eine Arrestzelle im Rathaus. Im Spalenturm befand sich auch die Folterkammer.
Geschwemmt und ertränkt wurde im Rhein. So wurden Kindsmörderinnen mit zwei Schweinsblasen voll Luft um den Hals von der Rheinbrücke (Käppelijoch) in den Rhein geworfen - wer sich, von der Strömung getrieben, bis zum Thomasturm über Wasser halten konnte, war gerettet. Wem Zauberei oder Ketzerei zur Last gelegt wurde, den zog man an einem Seil dreimal unter der Brücke hindurch.

files/AstridFritz/Bilder ab Henkersmarie und Sera3/Freiburg 1589.jpgFreiburg: Das Haus „zur schwarzen Katz“ in der einst „Hintere Wolfshöhle“ genannten Konviktstraße (Haus Nr. 39) diente zwar als Scharfrichterhaus, ist allerdings erst für das 18. Jahrhundert belegt. Zuvor wohnte der Freiburger Scharfrichter und Abdecker in der eher ärmlichen Neuburgvorstadt, nahe des Frauenhauses „Zur kurzen Freud“. Wie andernorts auch befanden sich Galgen und Rad außerhalb, an der Basler Straße/Am Radacker. Enthauptet wurde zumeist auf dem Schießrain zwischen Holzmarkt und Dreisam, Leibes- und Ehrenstrafen wurden am Fischmarkt (heute Bertoldsbrunnen) vollzogen, eingekerkert wurde man in den Türmen von Martinstor, Predigertor und Christoffelstor, wo sich auch die Marterstube befand, oder im „Loch“ des Heilig-Geist-Spitals. Das „Haus zum Schaub“ (Turmstraße 1) wurde erst später zum Gefängnis.


Der Mythos des blutrünstigen Henkers und andere historische Irrtümer

files/AstridFritz/Bilder ab Henkersmarie und Sera3/Raedern 1586 Wikipedia.pngBis heute ranken sich Mythen und Legenden um diese Gestalt, die uns in Filmen und Romanen erschauern lässt. Als grobschlächtiger, blutrünstiger Mann mit schwarzer Kapuze und Beil in der Hand wird er uns gezeigt, der ohne innere Regung foltert, straft und hinrichtet. Gespeist wird dieses verzerrte Bild aus der Literatur der Romantik, das bis heute wirkt und vergessen macht, dass hinter diesem Amt Männer standen, die nicht selten gebildeter waren als der Großteil der Bevölkerung und wohl kaum gefühllose Monster. Viele litten (und mit ihnen ihre Familien) unter der Ächtung und Stigmatisierung, erst recht unter ihren zumeist grausamen Pflichten. So lag mir viel daran, das schauerliche Image des Henkers zu relativieren.

Was der Nachrichter tat, war übrigens alles andere als willkürlich: Streng nach Vorschrift verrichtete er seinen Dienst, detailliert erhielt er seine Anweisungen seitens des Gerichts (einem Ausschuss von Ratsherren) - bis hin zur Anzahl und Intensität der Schläge oder des Zwickens der glühenden Zange. Auch die Richter selbst, obgleich in der Regel juristische Laien, urteilten aus ihrer Sicht nicht willkürlich, sondern holten sich Unterstützung von studierten Rechtsgelehrten und hielten sich ansonsten an die 1532 verabschiedete Strafrechtsordnung Kaiser Karls V., die sogenannte „Carolina“, die erstmals für das gesamte Deutsche Reich einen festen Rahmen schuf, wenn auch mit regionalen Unterschieden in der Handhabung. Vor allem aber sollte mit der Carolina die Willkür der Strafen und der Folter begrenzt werden, indem alles bis ins Kleinste festgelegt war. Mittels der Definition von „außerordentlichen Verbrechen“ allerdings konnten bestimmte Vorgaben aufgehoben werden, was die Schleusen zu Grausamkeit und Willkür erst öffnete – wie bei den Hexenverfolgungen, die zum Ende des 16. Jahrhundert ihren ersten Höhepunkt erreichten!

Nebenbei: Die großen Schauprozesse mit Volksfestcharakter gab es erst viel später. Generell lässt sich sagen, dass die Frühe Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert zunehmend grausamer wurde und man weit häufiger auf die Todesstrafe zurückgriff als im angeblich so finsteren Mittelalter, wo sich Volk und Richter noch voller Mitleid und Erbarmen für die „armen Sünder“ zeigten, wo der Brauch der Gnadenbitte und des Losheiratens noch etwas galt. Ein weiterer Hinweis in diesem Zusammenhang, ohne die Grausamkeit der Folter kleinzureden: Was noch immer als Inbegriff mittelalterlicher Justiz gilt, nämlich sadistisch ausgeklügelte Marterinstrumente wie Brustreißer oder Eiserne Jungfrau, entstammt zu einem Großteil zeitgenössischen Fantasien und nachträglichen Fälschungen. Was da in so manchen „Foltermuseen“ ausgestellt wird, dient mehr der Schaulust der Besucher als der Aufhellung historischer Wirklichkeit.


Die Unehrlichen

files/AstridFritz/Bilder Hexe bis Kondor/VB-Bettler.JPGZunächst ist „unehrlich“ oder auch „unredlich“ nicht moralisch-sittlich im Sinne von betrügerisch zu verstehen, sondern sozial. Der Unehrliche war somit nicht handwerks- und ratsfähig, war von kirchlichen wie politischen Ämtern ausgeschlossen, nahm aber am öffentlichen Leben durchaus teil. Der Begriff ist ein Kind der Frühen Neuzeit und gewann in der Zeit, in der mein Roman spielt (eine epochale Umbruchzeit mit seinen Bauernkriegen und Glaubenskrisen, der Reformation und der Eroberung der Neuen Welt) immer mehr an Bedeutung. Wobei die Unehrlichkeit je nach Region unterschiedliche Gruppen traf und unterschiedlich stark ausgrenzte – bis hin zum Ausschluss von den kirchlichen Sakramenten. Da gab es die als unehrlich geltenden Berufe (hier ging die Ausgrenzung stark von den Zünften aus!), die Nichtsesshaften sowie all jene Gewerbe, die mit Schmutz und Gestank, mit Strafe und Tod zu tun hatten. Was nach und nach hinzukam: Wer engen Kontakt zu Unehrlichen hatte, lief Gefahr, selbst unehrlich zu werden.

Die Einteilung der Berufsgruppen ist für uns heute kaum noch nachvollziehbar ist: So galten Wollenweber als ehrbar, die Leinenweber als unehrlich. Mancherorts waren Müller, Gerber, Bader, Zöllner oder Türmer unehrlich, andernorts nicht. Durchgängig zu den unehrlichen Berufen gehörten die Kesselflicker und Scherenschleifer, die Schäfer und Feldhüter, die Totengräber und Nachtwächter, die Gassenkehrer, Kloakenreiniger und Abdecker. Und natürlich die Dirnen und Scharfrichter. Darüber hinaus wurden ganze Gruppen ausgegrenzt, wie unehelich Geborene, “Zigeuner” (auch Heiden oder Ägypter genannt), Juden, Bettler, Gebrandmarkte und alles fahrende Volk. Vor allem in der städtischen Kultur hatten diese Menschen kaum eine Chance, ihre Herkunft zu überwinden, waren dauerhaft am unteren Ende der Gesellschaftspyramide angesiedelt, galten mehr oder minder als verachtenswert, ehrlos und latent kriminell – auch wenn ihre Fähigkeiten durchaus anerkannt waren.


Der Scharfrichter – ein Unehrlicher par excellence

files/AstridFritz/Bilder Hexe bis Kondor/Henker 1562.jpgFür die Entstehung der Unehrlichkeit des Scharfrichters – seine Tätigkeit wurde nicht von Anbeginn geächtet - gibt es unter den Historikern vielerlei Erklärungsansätze: Da war sein blutiges Handwerk (warum aber war der Wundarzt dann nicht unehrlich?), der Umstand, dass er gegen Lohn quälte und tötete (wer sonst hätte dieses Amt in einer städtischen Gesellschaft freiwillig übernommen?), schließlich die kirchliche Moral entsprechend des Grundsatzes "Du sollst nicht töten" (niemand indessen wäre auf den Gedanken gekommen, Hinrichtungen abzuschaffen, und Kritik an der Todesstrafe kam erst mit dem 18. Jahrhundert auf!), dazu die rechtsgeschichtliche Erklärung, dass die ersten Amtsinhaber aus den Reihen der Verbrecher und Unfreien rekrutiert wurden. Wie auch immer: Tatsache ist, dass sich die Unehrlichkeit im 16. Jahrhundert mit der Professionalisierung und Perfektionierung des Strafens und Tötens verfestigte. Verwerflich wurde also, dass das Opfer nicht mehr persönlich gerächt, sondern gegen Lohn getötet wurde.

Hinzu kommt, dass der Scharfrichter bis weit in die frühe Neuzeit meist zugleich auch das Amt des Abdeckers innehatte – eine Aufgabe, die seit jeher als anrüchig galt. Vielerorts oblagen ihm weitere „schmutzige“ Aufgaben, vor denen andere zurückschreckten, wie die Verwaltung des Hurenhauses, die Kloakenreinigung oder der Austrieb von Aussätzigen vor die Tore der Stadt. Trotzdem ist Vorsicht geboten: Die ältere Forschung, ganz der Epoche der Romantik verhaftet, spricht meist von totaler Ausgrenzung, die Wirklichkeit ist wie immer weitaus differenzierter und auch widersprüchlicher. Zwar zeigte sich kein Bürger gern in Gesellschaft des Henkers, aber bei ihm zu stehen oder mit ihm zu sprechen, machte nicht immer und nicht überall unehrlich (in Bayern etwa war er weder rechtlos noch diskriminiert). Und wo dem so war, konnte eine Berührung auch magische Kräfte verleihen. Man könnte sogar sagen: Mit wachsender Tabuisierung wächst die magische Ausstrahlung des Scharfrichters. Als Hüter der Richtstätte machte er gute Geschäfte mit Glücksbringern und zauberkräftiger Medizin, die den Körpern der Hingerichteten entstammten, zugleich war sein Wissen in der Heilkunde hoch geschätzt – kannte er sich doch bestens in der menschlichen Anatomie aus! Indem er von seinem Wissen und dem Aberglauben jener Zeit profitierte, ging es den meisten Scharfrichtern wirtschaftlich erstaunlich gut, sein „Kundenkreis“ rekrutierte sich aus allen Ständen, und er wurde für seine Dienste auch durchaus in Privathäuser geholt.

Mit Vorsicht zu betrachten ist auch das Bild des Scharfrichters in auffälligem Gewand: Bis in die frühe Neuzeit trug er dieses als Amtstracht wie andere Funktionsträger auch, und zwar nur während seiner Dienstzeit. Als stigmatisierende Kenntlichmachung wurden Kleidung und bestimmte Abzeichen erst nach und nach durchgesetzt, und auch nicht überall in den deutschen Landen. Teilweise war die Kleidung reglementiert, teilweise dem Henker selbst überlassen, der sich dann nicht selten am gehobenen Stand orientierte, gehörte er doch durchaus zu den Wohlhabenderen.

Gesichert ist, dass gegen Ende des 16. Jahrhundert das Berührungstabu immer ausgeprägter wurde und vielerorts sogar auf den Henkerskarren, auf Schwert und Galgen überging. Die Stigmatisierung und Berührungsangst wurde zur Volkskultur. 1670 schließlich hob Kaiser Maximilian II. die Unehrlichkeit des Henkers offiziell auf, ohne dass dies in der Bevölkerung Wirkung gezeigt hätte. So wurden z.B. in Freiburg 1753 abermals per Dekret der vorderösterreichischen Regierung Scharfrichter und Abdecker vom Makel der Unehrlichkeit befreit. Noch einmal fünfzig Jahre später, zu Goethes Zeiten, spielte Unehrlichkeit unter Gebildeten keine Rolle mehr. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts schließlich wurde der Beruf des Scharfrichters (wie auch des Abdeckers) endgültig bürgerlich und damit ehrlich.


Einmal Henker – immer Henker?

files/AstridFritz/Bilder ab Henkersmarie und Sera3/Henker Enthauptung.jpgDas Amt des Nachrichters in der frühneuzeitlichen Stadt war nicht ohne weiteres kündbar. Allenfalls konnte man von einer anderen Stadt abgeworben werden (und dies bei gutem Ruf auch aktiv in die Wege leiten) oder sich als Söldner einem Heer anschließen oder aber, was überaus selten, aber möglich war, sich die Ehrlichsprechung aufgrund besonderer Dienste oder nach langjähriger zuverlässiger Amtszeit erbitten. Der in der Literatur oftmals erwähnte Wechsel zum Wund- oder Tierarzt wurde aber erst zum 18. Jahrhundert hin üblich.

So ist unser Bild des Henkers auch davon geprägt, dass der Vater dem Sohn sein Amt vererbt – war den Söhnen als Verfemten doch ehrliches Handwerk verwehrt, und den Töchtern blieb entsprechend nur die Einheirat in die eigenen Kreise oder ein Leben am Rande der Gesellschaft. Für den Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit galt das allerdings noch nicht, da konnten Henkerskinder durchaus in Bauern- und Handwerkerfamilien einheiraten. Die berühmten Henkersdynastien (so finden sich in der Ahnenreihe der Grafikerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz mindestens 17 Scharfrichter!) entstanden erst nach 1550 - in meinem Roman, der im Jahre 1525 einsetzt, beginnt sich diese Entwicklung aber bereits abzuzeichnen, die dann mit dem 17. Jahrhundert gemeinhin üblich war. Erwähnt seien hier nur die berüchtigten Biberacher Scharfrichter, die Abriels und Kuisls aus Schongau oder die Scharfrichtersippe Bürck in Schwäbisch Hall.

Dreierlei hatte hierzu beigetragen: Zum einen spielte die neue Sesshaftigkeit eine Rolle (wie viele Zeitgenossen im Spätmittelalter waren die Scharfrichter zuvor erstaunlich mobil gewesen), zum zweiten hatte sich ihre Unehrlichkeit trotz größeren Wohlstands verfestigt, zum dritten wurde dieses Stigma nun erblich. Hatte man nämlich zuvor in der Fremde, wo einen niemand kannte, ein neues Leben beginnen können, so verhinderten dies die mit der Reformation aufkommenden Kirchenbücher: Wer irgendwo eine Stellung antrat, konnte – und musste – nun seine eheliche und ehrliche Geburt nachweisen. Als Folge der Stigmatisierung und der Vererbung der Unehrlichkeit entwickelte sich bei den Scharfrichtern ein ausgeprägtes Standesbewusstsein, ein hohes Berufsethos und eine enge Familienbande – ähnlich wie beim Fahrenden Volk oder auch den Zünften.

Gab es den Beruf des Henkers eigentlich schon immer?

Nach altem germanischen Stammesrecht waren Rechtsprechung und Vollstreckung noch eins: Der Ankläger oder das Opfer des Verbrechens führten nach dem Richtspruch die Strafe aus - wenn es denn überhaupt zu einer Gerichtsverhandlung kam und das Verbrechen nicht gleich ohne Aufhebens unter den Beteiligten selbst gesühnt wurde. Noch bis ins hohe Mittelalter versammelte man sich an Opfersteinen oder heiligen Bäumen (später auch auf Friedhöfen, im Kirchenprotal, in offenen Gerichtslauben), um Recht zu sprechen, wobei seit etwa 1200 der sogenannte „Fronbote“ (ursprünglich der geachtete Bote des feudalherrschaftlichen Gerichts) die Urteile vollzog oder auch die Gerichtsschöffen – ehrenamtlich und ohne Lohn!

Die ersten Henker im eigentlichen Sinne rekrutierten sich zumeist aus Söldnern Bütteln (den Handlangern der Fronboten) oder den ohnehin „ehrlosen“ Juden, ganz zu Anfang dienten auch Verbrecher als Henker, die dann selbst begnadigt wurden. So ließ im 11. Jahrhundert Kaiser Barbarossa angeblich elf Mitglieder einer zwölfköpfigen Bande durch den zwölften richten. Erst mit der Blüte der Städte im späteren Mittelalter und dem Aufkommen überregionaler Strafrechtsysteme, in die das römische Strafrecht einfloss, wurde das Töten zum entlohnten Amt und damit Beruf - und zugleich anrüchig.

Erstmals wird 1276 ein amtlich besoldeter Scharfrichter in Augsburg erwähnt, nach 1300 dann in Lübeck und Braunschweig. Im 14. und endgültig im 15. Jahrhundert etablierte sich das Amt überall in den Städten. Übrigens gab es noch bis ins 15. Jahrhundert auf dem Land das „Richten zu gesamter Hand“, also durch die Dorfgemeinschaft, bis auch hier der Henker Einzug fand.

(siehe auch: Interview mit dem Kindler-Verlag)

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